Zusammenhang
Am 12. August 2022 lehnte ein Schiedsgericht, das die UNCITRAL-Schiedsordnung anwendet, die Zuständigkeit für die von der russischen Staatsangehörigen Klägerin („die Klägerin“) gegen den Staat Kuwait erhobene Klage nach dem geltenden Investitionsschutzabkommen zwischen Russland und Kuwait ab.
Im November 2022 beantragte die Klägerin beim Berufungsgericht Paris die Aufhebung des Schiedsspruchs.
Am 9. Oktober 2023 beantragte die Klägerin beim Conseiller de la Mise en Etat ("Vorverfahrensrichterin") die Genehmigung, per Videokonferenz von der russischen Botschaft in Kuwait aus vor Gericht auszusagen, wohin sie geflüchtet war, nachdem sie während eines Teils des Schiedsverfahrens in Kuwait inhaftiert worden war. In Frankreich ist die Vorverfahrensrichterin eine von drei Richtern, die über die Begründetheit des Aufhebungsantrags entscheiden. Die Vorverfahrensrichterin überwacht die erste Phase des Verfahrens, in der sichergestellt werden soll, dass das Verfahren zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung frei von Verfahrensfehlern ist. In dieser Eigenschaft kann die Vorverfahrensrichterin Maßnahmen anordnen, die auf die Ermittlung des für das Berufungsgericht relevanten Sachverhalts abzielen, einschließlich der Anhörung einer Partei in der mündlichen Verhandlung, wie nachstehend näher erläutert wird.
Die Klägerin machte geltend, dass sie zwar im Jahr 2021 vom Schiedsgericht angehört worden sei, sich aber zum Zeitpunkt der Einreichung der Schiedsklage und während eines Teils des Schiedsverfahrens bis zu ihrer Freilassung gegen Kaution im Jahr 2019 in Kuwait in Haft befunden habe. Sie machte unter anderem geltend, dass sie während ihrer Inhaftierung nur eingeschränkten Zugang zu Beweismitteln und zu ihrem Rechtsbeistand gehabt habe, was zu einer Verletzung des ordnungsgemäßen Verfahrens geführt habe.
Kuwait erhob Einspruch gegen den Antrag von der Klägerin. Der Staat machte insbesondere geltend, dass entgegen den Behauptungen von der Klägerin keine Verletzung eines ordnungsgemäßen Verfahrens vorgelegen habe. Die Klägerin habe sich selbst in die Lage gebracht, über die sie sich beschwert, da sie gegen die Bedingungen ihrer Freilassung gegen Kaution verstoßen und Zuflucht in der russischen Botschaft in Kuwait gesucht habe.
Am 4. April 2024 gab die Vorverfahrensrichterin dem Antrag statt. Sie stützte sich dabei unter anderem auf Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ("EMRK") und das Recht jeder Partei, in einem sie betreffenden Verfahren persönlich gehört zu werden. Sie wies darauf hin, dass dieses Recht nur im Rahmen der Befugnisse ausgeübt werden könne, die den für die Überprüfung von Schiedssprüchen zuständigen Gerichten ausdrücklich eingeräumt seien.
Die Vorverfahrensrichterin wies ferner darauf hin, dass die mündliche Aussage von der Klägerin in englischer Sprache und per Videokonferenz erfolgen wird und dass sie von dem diplomatischen Gebäude aus gehört wird, in dem sie sich derzeit aufhält. Sie wird befragt und darf die ihr gestellten Fragen nur persönlich beantworten, ohne Notizen zu verlesen.
Die Vorverfahrensrichterin hat ferner entschieden, dass die Klägerin an der gesamten Vernehmung per Videokonferenz teilnehmen kann, es ihr jedoch nicht gestattet ist, die Vernehmung aufzuzeichnen. Die Vorverfahrensrichterin entschied außerdem, dass die Klägerin zwar per Videokonferenz an der gesamten Verhandlung teilnehmen, diese aber nicht aufzeichnen dürfe. Ein Mitglied des Teams ihres Rechtsbeistands, das im diplomatischen Gebäude, in dem sie sich aufhält, anwesend sein wird, bestätigt, dass sie keine Notizen hat und keine Aufnahmen macht.
Befugnis der Vorverfahrensrichterin, das persönliche Erscheinen einer Partei anzuordnen
Bei dieser Entscheidung stützte sich die Vorverfahrensrichterin zunächst auf die Artikel 4.2 und 5.2 des Protokolls über das Verfahren vor der Internationalen Handelskammer des Pariser Berufungsgerichts vom 7. Februar 2018 ("Protokoll" bzw. "IPC-CA").
Das Protokoll ist ein Regelwerk, das vom Ersten Präsidenten des Berufungsgerichts Paris, dem Präsidenten der Pariser Anwaltskammer und der Staatsanwaltschaft beim Berufungsgericht Paris angenommen wurde. Es gilt für Verfahren, die nach dem 1. März 2018 eingeleitet werden. Zu Beginn des Aufhebungsverfahrens fordert die Vorverfahrensrichterin die Parteien auf, anzugeben, ob sie mit der Anwendung des Protokolls einverstanden sind, was die Parteien im vorliegenden Fall offenbar getan haben.
Artikel 4 Absatz 2 des Protokolls sieht u. a. vor, dass der Vorverfahrensrichter nach Prüfung derersten Schriftsätze der Parteien die Parteien auffordern kann, vor ihm zu erscheinen (Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 1), und dass er die Parteien zu ihren etwaigen Anträgen auf Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung anhören kann (Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 2). Die Vorverfahrensrichterin entscheidet über die Anträge der Parteien in einer Verfahrensanordnung und setzt unter anderem die Frist fest, innerhalb derer potenzielle Zeugen ihre Aussagen machen müssen, über die sie in der mündlichen Verhandlung vernommen werden sollen (Artikel 4.2.3). Artikel 5 Absatz 2 des Protokolls betrifft das Erscheinen der Parteien und verweist ausdrücklich auf die Artikel 184 bis 198 der französischen Zivilprozessordnung.
Diese Vorschriften sind die zweite Rechtsgrundlage, auf die sich die Vorverfahrensrichterin gestützt hat, um der Klägerin rechtliches Gehör zu gewähren. Sie sind aber die wichtigste, da sie der Vorverfahrensrichterin die Befugnis in der Tat einräumen, das persönliche Erscheinen einer Partei anzuordnen. Sie legen auch die praktischen Regeln für ein solches Erscheinen fest. Ordnet der Richter des Vorverfahrens das persönliche Erscheinen einer Partei an, so kann er gemäß Artikel 186 der französischen Zivilprozessordnung die Partei anhören oder beschließen, dass das gesamte aus drei Richtern bestehende Gericht die Partei anhört. Die französischen Richter verfügen bei der Anordnung des persönlichen Erscheinens einer Partei in der Hauptverhandlung über einen Ermessensspielraum.
Die Vorverfahrensrichterin stützte sich auch auf den "Praktischen Leitfadenfür Verfahren vor den internationalen Kammern des Pariser Handelsgerichts und des Pariser Berufungsgerichts", der auch gemeinsam vom Ersten Präsidenten des Pariser Berufungsgerichts, dem Präsidenten des Pariser Handelsgerichts und dem Präsidenten der Pariser Anwaltskammer verabschiedet wurde, um die anwendbaren Bestimmungen der FCCP und der verschiedenen Protokolle zu erläutern, die für Verfahren vor den oben genannten Gerichten gelten.
Festlegung des Rahmens für die Anhörung von der Klägerin
Im vorliegenden Fall erlaubte die Vorverfahrensrichterin die Klägerin trotz des Einspruchs Kuwaits, vor dem Dreiergremium zu erscheinen.
Sie tat dies unter Abwägung von Artikel 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und dem Grundsatz, dass das Recht der Vorverfahrensrichterin, das persönliche Erscheinen einer Partei anzuordnen, nur innerhalb der Grenzen der Befugnisse ausgeübt werden darf, die den mit der Überprüfung von Schiedssprüchen betrauten Gerichten ausdrücklich eingeräumt wurden.
Artikel 6 Absatz 1 EMRK lautet: "Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird [...]". In diesem Zusammenhang führt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ("EGMR") in seinem Kommentar zu Artikel 6 EMRK aus: "Die Parteien haben das Recht, bei jeder mündlichen Verhandlung anwesend zu sein [...], sich mündlich zu äußern, eine andere Form der Teilnahme am Verfahren zu wählen (z.B. durch Bestellung eines Vertreters) oder eine Vertagung zu beantragen. Um diese Rechte wirksam ausüben zu können, müssen die Parteien so rechtzeitig von dem Termin und dem Ort der mündlichen Verhandlung unterrichtet werden, dass sie Vorkehrungen treffen können". Die Vorverfahrensrichterin erinnerte daher daran, dass die Klägerin nach dieser Bestimmung das Recht habe, in der mündlichen Verhandlung auszusagen.
Die Entscheidung der Vorverfahrensrichterin steht im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 6 EMRK. So hat der EGMR in Fällen, in denen das persönliche Erscheinen problematisch ist, entschieden, dass die Teilnahme einer Partei an einem Zivilverfahren über eine Videoverbindung, bei der ihr Anwalt im Gerichtssaal anwesend ist, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles mit dem Recht auf ein faires Verfahren vereinbar ist.
Die Vorverfahrensrichterin wies jedoch vorsichtig darauf hin, dass dieses Recht innerhalb der Grenzen der Befugnisse des mit der Überprüfung von Schiedssprüchen betrauten Richters ausgeübt werden muss. Nach französischem Recht sind die Befugnisse des Richters, der internationale Schiedssprüche überprüft, streng darauf beschränkt, die Vereinbarkeit dieser Schiedssprüche mit den begrenzten Nichtigkeitsgründen gemäß Artikel 1520 der französischen Zivilprozessordnung zu überprüfen. Französische Gerichte sind nicht befugt, solche Schiedssprüche in der Sache zu prüfen. Die Klägerin kann daher zu den Tatsachen aussagen, die für die Feststellung der dem Aufhebungsantrag zugrundeliegenden Nichtigkeitsgründe relevant sind. Da es sich bei dem angefochtenen Schiedsspruch um einen Schiedsspruch über die Zuständigkeit handelte, der die Zuständigkeit ablehnt, ist davon auszugehen, dass das Berufungsgericht die Klägerin ausschließlich zu Fragen der Zuständigkeit befragen wird.
Diese Entscheidung ist für das Recht von der Klägerin auf ein ordnungsgemäßes Verfahren von Bedeutung. Dennoch überrascht sie nicht, da das Pariser Berufungsgericht beider Überprüfung von Aufhebungsanträgen sehr darauf bedacht ist, einordnungsgemäßes Verfahren zu gewährleisten, wenn auch in angemessenem Rahmen und innerhalb der Grenzen seiner Befugnisse gemäß dem oben erwähnten Artikel 1520 der französischen Zivilprozessordnung.